Hervorragende russische Musiker werden vor die Wahl gestellt, entweder Rußlands Militäraktion zu verurteilen oder ihren Job zu verlieren. Dem gegenüber haben aber Dirigenten der BRD eine NS-Vergangenheit.
Mit einstimmigem Zorn der Kulturmanager und des Münchner Oberbürgermeisters Dieter Reiter wurde der russische Stardirigent Waleri Gergijew wegen seiner angeblichen Nähe zum russischen Präsidenten von seinem Posten als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker entbunden. Auch die Philharmonie de Paris sagte die für April geplanten Konzerte des Mariinski-Orchesters unter Gergijew ab, während die Carnegie Hall in New York beschloß, daß Gergijew drei Konzerte mit den Wiener Philharmonikern nicht dirigieren wird.
Zudem wurden viele Auftritte der russischen Star-Sopranistin Anna Netrebko auf westlichen Bühnen abgesagt. Sie trat für Frieden zwischen Rußland und der Ukraine auf, weigerte sich aber, Rußland öffentlich als Aggressorstaat im Ukraine-Krieg zu verurteilen. Eine der seltenen kritischen Stimmen zu dieser fragwürdigen Praxis kam von dem in Rußland lebenden deutschen Künstler Fred Buttkewitz. Er war von1979 bis 1989 Chefdirigent der Philharmonie Neubrandenburg und lebt jetzt mit seiner Frau in Ulan-Ude in Sibirien.
Seine Argumentation machte er aber vor allem an den Karrieren der Dirigenten Eugen Jochum, Herbert von Karajan und Karl Böhm nach der Zerschlagung des Dritten Reiches fest.
Eugen Jochum, der zum Führergeburtstag mit Hakenkreuzbinde Festkonzerte dirigiert hatte, war nach dem Zweiten Weltkrieg langjähriger Chefdirigent des Orchesters des Bayerischen Rundfunks. In Berlin war über 30 Jahre lang Herbert von Karajan Chefdirigent, der sicherheitshalber gleich zweimal in die NSDAP eingetreten war, erst in Österreich, dann in Deutschland. Er hatte auch im besetzten Paris Konzerte für die Wehrmacht dirigiert.
Fred Buttkewitz hielt dagegen:
"Doch die Russen nahmen das alles nach dem Krieg gar nicht übel. Die UdSSR lud beide, künstlerisch hervorragende Dirigenten, zu Gastspielen ein. Eines dieser Konzerte unter Jochum besuchte ich in den 1970er-Jahren in Leningrad. Die Herzen der Leningrader, die 30 Jahre zuvor eine Million Menschen durch die Blockade verloren hatten, flogen ihm zu."
Karl Böhm war sogar glühender NSDAP-Anhänger gewesen, der die Ideen des Nationalsozialismus als deutscher Dirigent in Wien propagiert hatte. Er wird von Fred Buttkewitz mit folgenden Worten zitiert: "Es ist sicher im Sinne der Regierung gelegen, wenn ich als deutscher Dirigent nach Wien gehe, um dort den zahlreichen Anhängern der nationalsozialistischen Idee neue Anregung zu geben."
Doch auch das war weder für die DDR noch für die Sowjets ein Grund, Karl Böhm auf die schwarze Liste zu setzen. Während einige andere Topdirigenten in Westeuropa für ihre Kooperation mit den Nazis doch noch mit Berufsverbot belegt wurden, luden die Russen ihn in die damalige sowjetische Besatzungszone ein: "Komm zu uns, dirigiere hier weiter!" Dieser laut Fred Buttkewitz "leider nur musikalisch große Dirigent" wurde so zum Vorbild seines Dresdner LehrersHorst Förster. Der ehemalige DDR-Musiker schließt daraus:
"Die Russen wußten eben Politik und Kunst besser zu trennen als der jetzige OB in München. Ich kann es nicht akzeptieren, daß russische Künstler wegen zu großer Nähe zu Putin einhellig verurteilt werden in einem Land, welches zuvor nach 1945 vierzig Jahre lang keinerlei Probleme mit Dirigenten hatte, die dem Naziregime eng verbunden waren – ohne beides auf eine Stufe stellen zu wollen."
Jürgen Geppert